Die böhmisch-kanadische Muffeljagd

Eigentlich hätte es ja Afrika sein sollen. Ich hatte einfach Sehnsucht nach der Weite, dem Wild, dem Licht und dem Geruch dieses Erdteils. Und ich hatte einen Jagdfreund gefunden, der noch niemals dort war, aber sich bereit erklärte, den großen Fehler zu begehen, einmal von Afrikas Wassern zu trinken. Man wird bekanntlich unheilbar süchtig, wenn der erste Schluck davon die Kehle hinunter rinnt. Die Reise war von langer Hand geplant, abgesprochen und gebucht. Und dann kam ein dummer Kremlinsasse dazwischen und sorgte für einen Krieg und eine Krise, der die Flugpreise ins Unerschwingliche steigen ließ. Nach einiger Überlegung bliesen wir die Reise ab – der Outfitter war so großzügig, die Anzahlung zum größten Teil stehen zu lassen.

Aber den Urlaub, den hatten wir beide fest eingeplant und ich für meinen Teil beim Arbeitgeber beantragt und genehmigt bekommen. Die Zeit war also da und musste gefüllt werden. Abermals langes Beratschlagen, und in einem dieser Gespräche ließ Jagdfreund Marco mich wissen, dass er noch nie auf Muffel gejagt hätte. Da wir beide schon mehrfach gemeinsam in Böhmen zur Blattjagd waren und Böhmen über gute Bestände des ersehnten Wildes verfügt, war die Wahl des Jagdlandes einfach. Ich kontaktierte einige Freunde und Bekannte, holte Angebote ein. Schlussendlich landeten wir bei dem Mann, der uns alljährlich die Blattjagd in Tschechien vermittelt, bei Aleš Maxa. Ihn, Marco und mich verbindet nicht nur die Liebe und die Leidenschaft zur Jagd, uns verbindet auch die Liebe zum Dackel.

Aleš führt einen hervorragenden Rüden, Abrok Viva Moravia, ein vielfach geprüfter und ausgezeichneter Arbeitsdackel, Brok genannt. Aleš und Brok treiben mit einiger Regelmäßigkeit deutsche Hundeführerkoryphäen in den einschlägigen Internetforen zu Weißglut und Verzweiflung, weil Brok mit seinem rassetypischen Dickschädel immer wieder Nachsuchen macht, die ein Dackel nach den ehernen Gesetzen deutscher Hundeführerwaidgerechtigkeitsehrerhaltungsvorschriftsdurchführungsverordnung gar nicht machen darf, weil ein Dackel so etwas überhaupt nicht kann. Aber Brok spricht kein Deutsch, und lesen kann er auch nicht. Darum hat er weder die erbosten Kommentare noch das Gesetz, auf dem sie fußen, je gelesen, und hätte er es gelesen, hätte er es nicht verstanden. So weiß Brok nicht, dass er das eigentlich nicht darf, weil er es eigentlich nicht kann, schert sich einen Dreck darum und führt die Nachsuchen samt Hetze zu erfolgreichem Ende. Marcos ständige vierbeinige Begleiterin ist Trudi, die aus mir nicht ganz erfindlichen Gründen „Trudolf“ genannt wird. Und ich werde seit zwei Jahren von Traudl geführt, die zumindest nach der Prüfungsordnung des baden-württembergischen Landesjagdverbandes ein angeblich brauchbarer Jagdhund ist – oder es zumindest irgendwann werden will. Alle drei sind es schöne kräftige, saufarbene Rauhaardackel.

Trudolf, Brok und Traudl in perfekter Pose. Photo: Aleš Maxa
Trudolf, Brok und Traudl in perfekter Pose. Photo: Aleš Maxa

Es hätte sich also kaum besser treffen können: drei Männer, die mit ihren drei Dackeln jagen gehen und ihren Frauen nicht zu Hause im Weg herumsitzen. Vier Tage Ende Oktober hatten wir vereinbart, um in Aleš‘ Revier „Vitíňeves“ auf Muffelwidder zu gehen. Leider würden er und Brok erst später dazustoßen. Seine Familie hat übers Jahr zwischen Beruf und Jagd wenig von ihm, so hatte er ihnen einen Urlaub in Italien versprochen. Was Aleš verspricht, pflegt er zu halten. Sein Revier liegt in der südöstlichen Ecke Südböhmens in einer Gegend, die dieser Geschichte ihren Namen gibt: Česká Kanada – Böhmisches Kanada. Der Name war die Idee des Prager Journalisten Jaroslav Ernest Trpak, der den Tourismus seiner Heimat mit ihren Teichen, Flüssen, und Wäldern ein wenig fördern wollte. Und wirklich sah diese Gegend südwestlich von Jindřichův Hradec in diesen Oktobertagen, deren Sonne das bunte Laub der Birken und Eichen golden anhauchte, ein wenig kanadisch aus. Aber die alten Schlösser, Klöster und Burgen hoben dann doch den böhmischen Charakter deutlich heraus. Unser Logis war eine kleine Pension im Schatten der Burg Landštejn, deren mächtiger Palas von wuchtigen Mauern umgeben auf einem Felssporn thront.

Wir waren etwas früher als vereinbart angekommen. Man will sich in Ruhe umziehen und zur Pirsch rüsten können, die Hunde wollen auch noch gefüttert sein, auch der Mensch mag womöglich noch etwas zu sich nehmen, bevor man aufbricht. Hast und Hetze sind keine guten Kunden. Alle viere – Trudolf, Marco, Traudl und ich – waren fertig gerüstet, geatzt und gewässert, als unsere Pirschführer ankamen. Marco würde mit Dalibor gehen, der im Revier wohnt und ein wenig Deutsch spricht. Ich spreche leider fünf bis zehn Worte Tschechisch mit leidlichem Akzent, so hatte Aleš mir Mira als Pirschführer zugeteilt, der noch weniger Deutsch spricht als ich Tschechisch. Dass so nahe der Grenze zu Österreich (es sind keine acht Kilometer, wie die Krähe fliegt) das Landvolk kein Deutsch spricht oder sprechen mag, braucht nicht zu wundern, wenn man sich ein wenig mit der Geschichte der Gegend auskennt. 1938 war die Region ans Dritte Reich angegliedert worden, und sieben Jahre Verbrechertum haben ein jahrhundertelanges Neben- und Miteinander der beiden Kulturen ausgelöscht. Als der braunfaule Zauber dann gottgedankt endlich vorbei war, wurden die Deutschen aus dem Land gejagt, egal, wie lang oder kurz, wie rechtmäßig oder rechtsbrüchig sie angesiedelt waren. Dann fiel der eiserne Vorhang, in dessen Nähe ich nicht gar weit weg auf der österreichischen Seite meine wichtigsten und schönsten Jugendjahre verbracht hatte. Dass man heute auf verschlungenen, holprigen Waldwegen von einem Land ins andere reist, dass man sich da wie dort begrüßt und umeinander müht, dass man sich die Hände reicht, den Tisch deckt und die Flaschen öffnet für- und miteinander: mir gibt das die Hoffnung, dass der Mensch doch zumindest ein klein wenig lernfähig ist.

Photo: Bertram Graf v. Quadt

Am Abend nahm Mira mich mit auf eine kleine, wilde Pürsch abseits von Straßen und getretenen Pfaden:  geh auf dem Weg, tauch irgendwann in die Botanik, folge Deiner Nase und Deinen Ohren, bis Du – verhofft zwar – aber zumindest unversehens an einem kleinen Stand ankommst. Da setz Dich hinauf und warte zu. Ein paar Sauen mögen vorbeikommen, Rehe mögen aus der Dickung lugen, und irgendwann, spät, im allerletzten Büchsenlicht mag ein Widder dastehen, so wie der da grade vor Dir. Hat dicke Schnecken auf, steht nicht weit, nicht eng, dreht fast zur Gänze ein. Die Enden beidseits sind stumpf, Bauch und Rücken hängen durch. Die Mähne wallt, der Träger ist kaum wahrnehmbar. Alt sieht das Wild aus alt und reif und gut zu nehmen, und Du schaust und starrst und weidest Dich am Anblick.  Kein Gedanke kommt Dir an Waffe und Schuss, so stark ist dieses Wild, dieses Bild, diese Archaik. Und dann sagt Dein Jager diese paar Worte, die Du in seiner Sprache gelernt hast und verstehst: „Tam je starý beran!“ – „Da steht ein reifer Widder!“

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Photo: Aleš Maxa

Da geht Deine Hand unwillkürlich zur Büchse, magst Du Dir noch so sehr geschworen haben, dass Du nicht gleich am ersten Abend schießen wirst. Und dennoch langst Du Dir das Gewehr her, schlägst an, visierst. Siehst im letzten Büchsenlicht die enge Drehung, die starken Schnecken, das noble Wild. Machst Dich bereit zu Schuss, spannst den Hahn deiner Waffe.  Und just da dreht sich er alte Herr weg von Dir und äst sich direkt der Dickung zu. Für einen Sekundenbruchteil warst Du auf dem Blatt und im Leben. Jetzt weist Dir das Wild nur noch sein Hinterteil und verschwindet im Dunkel der hereinbrechenden Nacht.

Die lange Anreise hatte doch ihren Tribut gefordert, nach einigen Abendbieren und einem wenig erwähnenswerten Essen gingen wir früh zu Bett. Morgens sollten wir um halb sieben parat stehen, eine durchaus christliche Zeit. Traudl rollte sich zu meinen Füßen unter der Decke ein und schnarchte mir eine kleine Melodie vor, in die ich alsbald einfiel.  Wie vor jeder anderen Jagd auch wachte ich viel zu früh auf und nutzte die Zeit für eine unüblich ausführliche Morgentoilette. Der Parkplatz unterhalb der Burg Landstein lag in dickem Nebel, der vom Taxenbach und seinem großen Stausee heraufstieg. Als Marco und Trudi aus dem Haus kamen, konnte ich sie erst sehen, als sie wenige Schritte vor mir waren. Im Wald war die Sicht nicht wesentlich besser. Mira führte mich trotzdem sicher an einen Sitz, auf dem wir hockten, bis der Nebel langsam dem Morgengrauen wich. Vor uns war eine Jungwuchsfläche, daneben eine von hohem Gras überwucherte Freifläche. Im Hochholz dahinter brach eine Rotte Sauen herum, vor uns war aber gähnende Leere. Mehrfach glaste ich die Fläche ab, langsam und genau. Nichts. Bis mich Mira plötzlich am Arm packte: „Beran!“

Tatsächlich war aus dem beobachteten Nichts mitten im Jungwuchs ein Widder aufgetaucht. Erst sah ich nur den weißen Sattelfleck, dann wurde ein ganzes Wild daraus. „Guter Widder, schießen!“ Dalibor, der Jagdleiter dieser Tage, hatte Marco und mir gestern Abend schon eingeschärft, dass wir – sollte ein passender Widder dastehen – nicht lange fackeln sollten. Zweite Chancen gäbe es hier selten. Ich hatte diesen Hinweis nicht ernst genommen, nahm ihn auch jetzt noch nicht ernst, sah darin das Bestreben, den Kunden schnellstmöglich zu Schuss und die Jagdkasse zu Füllung zu bringen. So nahm ich erst einmal das Glas hoch und sah dicke, massive und lange Schnecken, weit gedreht. Der Widder war wirklich stark! Doch kaum hatte ich meine Waffe oben und das Wild im Absehen, warfen drüben im Wald zwei Arbeiter ihre Motorsägen an, und im Dröhnen des Fichtenmopeds verdrückte sich der Muffel ebenso rasch, wie er aufgetaucht war.

Leider ist mein Tschechisch immer noch kaum vorhanden. Sonst hätte ich ein paar auserlesene Flüche und Schimpfwörter lernen können aus dem Wortschwall, den Mira von sich stieß. Immerhin weiß ich seit diesem Morgen, dass „Kurva“ nichts mit einer Kurve zu tun hat. „Wir gehen pirschen“, sagte Mira eine Weile, nachdem er sich beruhigt hatte. Und diese Pirsch war eine der schönsten meines Lebens: Der Frühnebel hatte sich vollends verzogen, und durch die dichtstehenden Stämme des Hochwalds, den mich Mira entlang einer vom Käfer und der Trockenheit der letzten Jahre erzeugten Freifläche führte, war das erste Morgenrot zu sehen. Bald stieg der Tagesstern über den Horizont, und sein Gold floss in breiten Strahlen durchs Holz.

Es gibt kaum Schöneres als einen Fichtenhochwald in diesem Morgenlicht. Schwarz stehen die Stämme gegen die Sonne, tief liegt ihr Schatten auf dem Boden. Aber dort, wo das Licht hinfällt, glänzt taubenetz und smaragden das Polytrichastrum, das Widertonmoos, auch Schönes Frauenhaarmoos genannt und zeigt seine kleinen Sterne. Drauf gehst Du lautlos wie auf weichen Kissen und musst nicht bangen, dass die kleine Muffelherde draußen auf der Freifläche Dich hört. Lang schon hat Mira sie erahnt, sie mir ausgedeutet. Wir wissen genau, wo sie stehen und müssen nur darauf achten, dass wir im Wechsel von Sonnenstrahl und Schattenschlag nicht sichtbar werden.  Doch lang dauert es, bis wir die Muffel ausbuchstabiert haben nach Schafen, Lämmern und drei Widdern, die alle zu jung sind – lang genug für eine spannende, prachtvolle, schöne Morgenpirsch, auf der ein „nicht geschossen“ das „gut gejagt“ in keiner Weise mindert. Mira war ein wenig enttäuscht, wir waren offenbar den besten Muffel-Einstand des Reviers abgepirscht und hatten doch keinen reifen Widder gesehen. Ich war nicht böse drum.

Photo: Bertram Graf v. Quadt
Photo: Bertram Graf v. Quadt

Marco war es ähnlich gegangen wie mir: Anblick ja, aber nichts Passendes dabei. Auch ihm war das ganz recht so. Wir hatten noch sechs Pirschen vor uns, auf die wir uns freuen konnten. Die kalten Morgentemperaturen waren einem strahlend schönen Spätherbsttag mit warmen Temperaturen gewichen, so setzten wir uns ins Auto und fuhren nach Österreich auf ein Mittagessen. Der Weg führte über kleine und holprige Sträßchen, eindeutig ehemalige Militärstraßen zu einem unmarkierten Grenzübergang. Die Ortsgrenze von Klein-Taxen im Waldviertel bildet auch die Staatsgrenze. Kein Schlagbaum, kein Schild markiert die Stelle, an der vor nicht gar langer Zeit der eiserne Vorhang die Welt verunzierte. Als Schüler hatte ich ihn noch gekannt, hatte in seinem Schatten und der unbestimmten Angst, die darin lag, gelebt. Als der eiserne Vorhang fiel, atmete Europa auf. Heute hält es den Atem an, weil ein offensichtlich irrsinniger Mann im Kreml genau das, was damals erreicht wurde, rückgängig zu machen versucht.

Nach der Abendpirsch, die für uns beide mit wenig Anblick garniert war, zogen Marco und ich beim guten Pilsner Urquell Resümee. Wild war im Revier in Mengen vorhanden, das stand per Trittsiegel im Boden zu lesen, das war unseren Hunden deutlich anzumerken, die dauernd die Nasen tief am Boden hatten und sich um ds Thema „Leinenführigkeit“ einen feuchten Dreck scherten, weil es überall so frisch und verführerisch roch. Aber: zu sehen war das Wild kaum. Auf den Ansitzen zeigte sich wenig, selten einmal hörte man etwas abspringen, kein Reh schreckte, keine Sau blies. Aleš hatte mich vorab vorbereitet: Vitíňeves sei nicht einfach zu bejagen. Und Dalibor hatte Marco und mir schon nach der ersten Abendpirsch eingeschärft: „Wenn wir an einen passenden Widder kommen, zögert nicht lang!“ Wir beide hatten das noch abgetan und uns insgeheim gedacht, dass man uns halt möglichst schnell zu Schuss bringen wollte – ein erfolgreicher Jagdgast ist ein glücklicher Gast, und glückliche Gäste kommen gerne wieder. Aber mir schwante, dass dieser Hinweis durchaus sinnvoll war.

Wie so viele böhmische Wälder, die ich kenne, hatte auch dieses Revier schwer unter der Trockenheit der vergangenen Jahre und dem schweren Käferbefall gelitten. Winterstürme hatten dann den Rest erledigt. Der Forst war durchzogen von großen Freiflächen, die nur teilweise bereits aufgearbeitet waren, in denen aber die Pionierpflanzen schon mannshoch und teilweise höher standen. Fürs Wild boten diese Wildnisse ideale und sichere Äsungsflächen. Für den Jäger war es ein leichtes Pirschen im moosigen Hochwald, der angrenzte. So weit, so gut. Aber das Wild zu sehen, das war ein Problem. Mira, mein Pirschführer, hatte Augen wie ein Luchs: egal wie dicht das Gewirr aus Stämmen, Büschen, Stöcken und Wurzeltellern auch war: wenn es eine Bewegung irgendwo gab, erkannte er sie sofort, und wenn ich gelegentlich mir die Augen erfolglos aus dem Kopf stierte, lotste er mich rasch in den richtigen Blick. Dort dann aber eine Schussmöglichkeit zu finden – selbst wenn das erspähte Stück passend gewesen wäre, hätte ich oft genug kaum mehr als ein briefbogengroßes Stück Wildkörper gesehen, und selten genug das Leben überhaupt, um eine Kugel hineinzusetzen.

Am nächsten Morgen begrüßte uns Dalibor im dichten Nebel auf den Parkplatz mit dem Hinweis, dass es ab jetzt noch schwieriger werden würde mit der Jagerei: es war der hiesige Nationalfeiertag, der 28. Oktober, der an den Beginn des unabhängigen tschechischen Staates erinnert. Tomáš Masaryk, Sohn einer Köchin und eines Kutschers, hatte seit Beginn des ersten Weltkriegs diese Idee verfolgt, ungewollt wurde er so zu einer Schlüsselfigur des tschechischen Widerstands gegen die k.u.k Monarchie, konspirierte mit den Alliierten und fasste die tschechischen und slowakischen Freiwilligenverbände zu den „Tschechoslowakischen Legionen“ zusammen, die dann auf Seiten der Entente gegen die Mittelmächte kämpften. 1918 überzeigte er dann die Alliierten von einer Bildung des Staates Tschechoslowakei, proklamierte diesen Staat im Oktober dieses Jahres, und als die USA Österreich-Ungarn Bedingungen für ein Ende des Krieges vorlegten und Wien am 28. Oktober akzeptierte, war dieser von Masaryk ausgerufene Staat Wirklichkeit. Zwölf Tage drauf dankte der deutsche Kaiser ab, wenig später unterzeichnete der österreichische Kaiser seine „Abdankungsproklamation“, und mit dem Waffenstillstand von Compiègne endete am 11. November 1918 das Morden, das 15 Millionen Menschenleben gekostet hatte. Kaum 20 Jahre später hob ein noch schlimmeres Morden an, an dessen Ende 65 Millionen Menschen tot waren.

Photo: Bertram Graf v. Quadt

Für mich, der ich in Friedenszeiten geboren und groß geworden bin, sind das Zahlen auf dem Papier und Geschichten von Vorfahren, die eng in die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert involviert waren. Und während ich in Böhmen frei und froh auf Muffel jagen durfte, fielen keine 800km weiter im Osten wieder Bomben und Raketen auf Menschen herab, weil ein Fabrikarbeitersohn aus Russland gern Zar sein wollte. Zwei grauenhafte Kriege hat Europa erlebt, und man sollte meinen können, dass daraus ein gewisser Lerneffekt resultiert hat. Doch der einzige Lerneffekt, den der russische Machthaber daraus gezogen hat, ist wohl der: einen dritten Weltkrieg will niemand, drum wird mich niemand hindern, wenn ich mir ein Land, das mir nicht gehört, einverleibe. Als Putin sich 2014 die Krim geholt hatte, war dieses Kalkül aufgegangen. Nun will er die ganze Ukraine. Doch offenbar beißt sich der rote Bär an diesem blau-goldenen Brocken die morsch gewordenen Zähne aus. Währenddessen leben wir am Rand eines dritten Weltkriegs. Von dem hat Albert Einstein gesagt, dass er nicht wisse, mit welchen Waffen er ausgetragen würde. Doch dass im vierten Weltkrieg die Menschen nur noch mit Stöcken und Steinen gegeneinander kämpfen könnten, dessen sei er sich sicher.

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich mit Mira auf einer Kanzel in den Wiesen über dem Dorf auf das Morgenlicht wartete. Der Nebel hatte sich schon ein gutes Stück gehoben, als ein Widder aus dem Wald übers Gras gezogen kam, schräg auf uns zu. Mit dem Anblick waren alle Gedanken an Weltkriege und Weltläufte, alle Sorgen verflogen. Das Gewicht der gedrungenen Gestalt war deutlich nach vorn versammelt, den Träger zierte eine schon gut sichtbare Mähne. Die Schnecken waren dick und gut gedreht. Die Rabenprinzessin lehnte noch im Hochstandeck, aber Traudl, die noch eben tief im Dackelschlaf gelegen hatte, spürte meine plötzlichen Anspannung und begann leise zu janken. Ich streichelte ihr Köpfchen, damit sie ruhig blieb während Mira den Widder ansprach. „Pět“ (Fünf), flüsterte er, und „dobrý“ (gut). Dann schaute er mich kurz an, musterte mich geradezu und schüttelte dann den Kopf. „Nicht gut für Dich.“ Auch wenn wir kaum ein paar Worte so miteinander wechseln konnten, dass einer den anderen einwandfrei verstand, hatte er mich gut genug begriffen. Ein kunstloser Schuss vom Hochstand herunter auf einen Widder, der sich auf keine dreißig Schritt am Fallobst gütlich tat, ein unverdientes, vielleicht unverschämtes Glück – dafür war ich nicht hergekommen.

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Photo: Aleš Maxa

Der Widder zog unbehelligt seiner Wege, und ich freute mich am warmen Licht eines Herbstmorgens. Dann hörte ich ein lautes Gähnen aus der Hecke, an der der Widder gestanden hatte. Keine zehn Meter von dem Fleck stand ein Mensch auf, ein zweiter schälte sich aus seinem Schlafsack, ein drittes Bündel regten sich und wurden Bursch und Mädel, die offensichtlich die Nacht über hier kampiert hatten. Ich flüsterte Mira zu, hoffend, dass er mich verstehen würde: „Wenn wir jetzt den Widder geschossen hätten, wäre das ein schönes ‚dobré ráno‘, ein schönes ‚Guten Morgen‘ für die da drüben gewesen!“ Seine Antwort war ein Wortschwall, der mich einmal mehr den festen Vorsatz fassen ließ, endlich Tschechisch zu lernen. Es muss eine wertvolle Ansammlung auserlesener Schimpfwörter, Beleidigungen und Flüche gewesen sein. Dann grinste er mich an: „Wir jetzt Wald, pirschen!“

Nach kurzer Fahrt hielt Mira den Wagen im Hochwald an. Draußen schimmerte eine der beschriebenen Freiflächen durch die Stämme, die wir abpirschten. Der Boden war übersäht mit Trittsiegeln von Muffeln, Damwild, Sauen und gelegentlich Hochwild. Aber zu sehen war absolut nichts. Wir kehrten auf den Weg zurück und zogen dort langsam und vorsichtig weiter. Links und rechts wechselten sich Stangenholz und Hochwald ab, aber Wild war nicht zu erblicken. Nach gut drei Viertelstunden, zwei Kilometern und einer weiteren großen Freifläche bog Mira vom Weg ab und folgte einer kaum mehr erkennbaren Abteilungslinie. Rechts dunkelte eine Bürstendickung, links war schütterer Hochwald, dahinter die Freifläche. Unter den Stämmen kam dichter Jungwuchs ungestört auf, wiewohl überall Losung von wiederkäuendem Schalenwild im frischen Gebräch der Sauen lag.  Kurz überlegte ich, ob ich lieber hier einen Stand auf getriebene Sauen hätte oder doch eher deutsche Förster hierher zur Exkursion bitten wollte. Mira ließ mir keine Zeit zur Entscheidung, sondern führte mich weiter durch den Jungwuchs, zwischen großen Steinen durch, weiter bergab, bis auch links von uns eine Dickung aufragte. An seiner Körperhaltung merkte ich, dass die Pirsch dem Ende zuging. Wo er bis eben noch bei voller Körperspannung vorsichtig jeden Schritt vor den letzten gesetzt hatte, jedes Blatt, jeden zweig auf dem Boden vermeidend und da, wo er den Belag nicht sehen konnte, den Boden mit dem Schuh scheu prüfend leise sich vorgewagt hatte, sank er nun schier in sich zusammen und ging schneller. Jäger sind so, sind anders: der Durchschnittsmensch strafft sich, wenn er schnell geht, und lässt sich hängen, wenn er sorgenbeladen langsam nur mehr vorwärts kann.

Der Pfad war wieder zum Rückeweg geworden. Bald würde er eine Forststraße sein, auf der wir zum Auto zurückkämen. Dann war da diese eine, kleine Öffnung. Erst war Mira mit hängenden Schultern dran vorbeigegangen. Dann bleib er so abrupt stehen, dass Traudl ihm in die Beine rumpelte. Er schob den Hut nach vorne, kratzte sich im Nacken, schüttelte den Kopf, machte kehrt und tauchte in die kleine Öffnung. Durch die Dickung aus vielleicht zwanzigjährigen Fichten führte ein schmaler Hohlweg. Den pirschte er mit mir im Schlepptau so langsam entlang, dass ich beinah glaubte, den Windzug zu spüren, wenn eine Schnecke an uns vorbeizog. War der Weg anfangs grad mannsbreit, weitere er sich mählich zur doppelten, dann dreifachen Breite aus, wenn drei Männer eng nebeneinander gingen. Am Ende dieses Weges musste ein kleines, leicht abschüssiges Wieslein liegen, ich konnte das Gras draußen im Wind sich wiegen sehen. Dann blieben wir beide eingefroren stehen.  Wir hatten das Wild im selben Moment erblickt. Vierzig Schritt vor uns stand es am linken Rand des Hohlwegs aus jungen Fichten, deren Äste die Sicht schirmten. Hell leuchtete die Schabracke her, braunrot eingefasst, dunkel wallte am Träger die Mähne des Widders. Die Schnecken standen breit am Haupt, lang, nicht voll gedreht: „Dobrý, velmi starý, prosím střílejte!“ Gut, alt, sehr alt, ein passender, für mich passender Widder stand da. Stand, und äugte schon her.

Woher der Jäger das weiß? Was sagt ihm, dass dies DIE Möglichkeit ist, die Einzige, die sich ihm bieten wird? Die, die er nützen muss, weil es keine weitere geben wird? Vielleicht ist das der vielzitierte Urinstinkt, dieses Wissen, dass es jetzt gilt. Das jetzt alles zusammengenommen sein will: Hirn, Herz, Seele, Wille, Verstand, der ganze jagende Mensch. Ich stand direkt hinter Mira, war so die ganze Pirsch durch den Hohlweg hinter ihm gegangen damit irgendwelches Wild nur eine Silhouette würde eräugen können, damit das Risiko des Erkanntwerdens minimiert sei. So konnte ich aber nicht schießen. Ich musste einen und noch einen halben Schritt zur Seite tun. Ein kurzer Blick auf den Dackel: Traudl zitterte am ganzen Körper, saß aber brav auf den angespannten Keulen vor meinem rechten Fuß. Da gehörte sie zwar eigentlich nicht hin, sondern neben mein linkes Bein, wollte man dem Schulbuch folgen. Doch jetzt war es just recht. Die Leine würde so nämlich reichen für die notwendige Bewegung zur Seite hin. Mit der Rechten stellte ich minutenzeigerlangsam das Dreibein auf, mit der Linken fasste ich den Stutzen am Pistolgriff und ließ ihn von der Schulter gleiten, legte den Lauf in die Rast, hob den Kolben an die Schulter, spannte den Hahn. Den Kopf hatte ich tief an die Brust gezogen, damit der Widder mein helles Gesicht nicht eräugen möge. Die Hände hatte ich wie bei jeder Pirsch, ja, bei jeder Jagd, in dünnen tarnfarbenen Handschuhen, damit das Wild die Bewegung dieser weißen Paddel nicht würde leuchten sehen.  Der Widder stand drittelsptiz auf mich her und äugte mich an. Er musste die Bewegung mitbekommen haben, auch wenn ich mich so langsam bewegt hatte, wie es mir irgend möglich war. Er war aufmerksam, aber nicht alarmiert. Noch nicht.

Muffelwidder sind hart. Auch bei breitem Schuss fallen sie selten im Feuer. Hier musste die Kugel schräg gehen. Ich konzentrierte mich auf die Stelle zwischen der mir zugewandten Blattschaufel und den Rippen, fuhr noch ein wenig nach innen und zog. Im Schuss riss es den Widder nach hinten um. Er schlegelte kurz, wälzte sich dann über den Rücken, wurde wieder hoch und flüchtete mit schlenkerndem Vorderlauf weg. Im ersten Sekundenbruchteil keimte Panik bei mir auf: Vorderlaufschuss! Doch das konnte nicht sein: wir waren auf keine fünfzig Schritt an den Widder herangekommen, die Waffe schoss sauber, ich war fest im Leben geweseTraudl hatte begonnen vernehmlich zu jaulen. Sie hatte das Wild fallen gesehen, und dann war es weggeflüchtet – zu viel für ihr kleines Dackelhirn. Ich hängte mir den Stutzen um und kniete mich neben sie, um sie zu beruhigen. Dann dachte ich alles noch einmal durch: Der Widder hatte mit Sicherheit einen schweren Schuss schräg durchs Leben, aber er lag nicht. Er war über die Wiese geflüchtet und über die Kante, die sie gegen den steil nach unten abfallenden Hochwald begrenzte. Dor mochte er liegen oder noch weiter bergab gegangen sein. Traudls Schweißriemen lag im Auto, das einige Kilometer entfernt stand. Es mochte eine Nachsuche geben für sie. Um das festzustellen, musste ich an den Anschuss. Die Eingriffe des Widders waren klar im Boden, auch der Fleck, an dem er im Schuss zusammengebrochen war. Aber kein Tröpflein Schweiß lag dort. Mira und ich sahen uns ein wenig ratlos an. Dann sagte ich: „Die Kante dort. Ich schau kurz drüber, ob ich etwas sehe.“

Wie oft bin ich solche Wege früher gegangen mit gemischten Gefühlen: liegt das Wild oder ist es krank? Muss ein anderer deinen Fehler ausbügeln? Bei jedem Schuss, auch auf kurze Distanz, kann etwas schief gehen, und den Preis zahlt ein Mitgeschöpf. Doch das Wissen, einen ausgebildeten und geprüften Hund an meiner Seite zu haben, gab mir Sicherheit auf diesem Weg. Der Widder musste die Kugel schwer haben, und läge er nicht, würde Traudl ihn finden. So ging ich auf die Geländekante zu, lugte drüber und sah zwischen den Stämmen seine Schnecken.  Traudl rastete völlig aus. Den zerrenden Hund an der Leine ging ich auf mein Wild zu, nahm den Hut vom Kopf und stand da. Stand da und schaute, staunte. Setzte mich endlich auf den Waldboden und da wurde auch mein Dackel ruhig. Traudl kletterte auf meinen Schoß und gemeinsam hielten wir Totenwacht.

Photo: Bertram Graf v. Quadt

Der Widder lag hangauf auf seiner rechten Seite. Ein Ausschuss war nicht zu sehen. Die Kugel musste all ihre auf diese kurze Distanz hoch geballte Kraft in diesem vergleichsweisen kleinen Körper gelassen haben. Und dennoch war das harte Wild vom Anschuss weg noch gute hundert Meter gegangen, bis es verendet zusammengebrochen war. Das waren wichtige, wertvolle Momente an diesem Fleck. Die Gedanken dort gehören mir allein, auch weil ich sie selbst bei größter Mühe nicht würde in Worte fassen können. Sekunden fühlen sich da an wie Stunden, Minuten wie Tage. Die Zeit verdichtet sich in Unendlichkeit, das Denken hört auf, das Fühlen endet, das Sein beginnt, das einfache, unzerdachte, unverfühlte Dasein. Da ist kein Wollen mehr, kein Streben, kein Müssen. Da ist nur noch unendlich erfüllte Leere und Dankbarkeit.

Irgendwann kam Mira den Hang herab. Ich drehte mich zu ihm um. In dem Moment sprang mein Hundl auf, als hätte sie gemerkt, dass dieser so besondere und werte Augenblick zu Ende war. Sie packte den Widder erst an der Keule, dann rupfte sie ein dickes Büschel aus dem Sattelfleck, nun ging sie dem Widder an die Drossel. Ich ließ sie gewähren, das Wild war ebenso ihre Beute wie die meinige.  Aus dem Haarbüschel, dass sie dem Widder aus der Schabracke gerissen hatte, nestelte ich mir einen Bart hinters Hutband, daneben steckte ich den Fichtenbruch, den mir Mira mit einem lachenden „Lovu zdar, Bertram.  Waidmanns Heil!“ überreicht hatte.  Dann ließ er Traudl und mich beim Wild allein.

Wann immer ein Jagdführer das macht, bin ich unendlich dankbar dafür. Ich brauche diese Minuten dringend. Sie sind im Wortsinn not-wendig. Natürlich zum Rückschauen, zum Nochmalerleben. Aber viel wichtiger: ich muss meinen Frieden damit machen, ein Tier getötet zu haben, ein Leben genommen zu haben. Je älter ich werde, um so wichtiger wird mir das. Da ist ein Zwiespalt, der überbrückt, geschlossen sein will. Ich habe getötet, habe zerstört, beendet. Mochte der Tod durch guten Schuss für das Tier auch so überraschend und schnell gekommen sein, dass es das Hinüberwechseln vom Leben zum Tod kaum mitbekommen hat, dass die Tötung so „human“ wie möglich war (und schon in diesem Begriff „human“ liegt eine grauenhafte Diskrepanz), so wollte es doch das, was jede Kreatur nur will: leben. Diesen Willen habe ich vernichtet, diese Existenz ausgelöscht. Und dennoch habe ich Freude dran empfunden, habe ich Sinn darin gesehen, bin ich bereit, das gleiche wieder und wieder zu tun. Damit muss ich zurechtkommen, muss vor mir und vor meinem Schöpfer, in dessen Schöpfung ich ja eingegriffen habe, stehen können. Er hat mir das Jagen ins Herz und ins Leben gelegt, so tief, dass ich ohne nicht sein kann. Dafür aber verlangt er von mir, dass ich das, was ich tue, überlegt, überzeugt tue. Je älter ich werde, je mehr sich Gier und Leidenschaft legen, umso mehr fordert er mich dazu. Denn gewissenlos, emotionslos darf mein Jagen, mein Töten nicht werden. Einmal mehr: ich darf nicht – und ich will nicht – töten, nur weil ich es kann.

Traudl muss meine Gedanken gespürt haben. Solange Mira bei uns war, solange ich das Wild besah, meine Aufnahmen zur Erinnerung davon machte, so lang war sie ungestüm und wild und wollte dem Widder an die Decke. Als Mira fort war, ich mich neben mein Wild in die Waldstreu gesetzt hatte und mit mir ins Gericht ging, da kroch sie auf meinen Schoß, legte ihren Kopf in meine Armbeuge und wurde still. Dass er nach unbekannt langer Zeit wieder mit dem Auto da war, merkte ich nur daran, dass der Dackel sich aus meinen Armen wand und wedelnd an der Leine zerrte. Gemeinsam zogen wir den Widder zum Auto hinauf, Traudl hing am Hinterlauf. Dann packten wir den Muffel auf die Ladefläche und fuhren los. Der Aufbrechplatz im Revier liegt am Ortsrand von Vitíňeves, unweit von Dalibors Haus. Das hat er so eingerichtet, damit er vom Gartenzaun aus an diesem Luderplatz die Füchse unter Kontrolle halten kann. Dort versorgten wir das Wild an einem Windschutzgürtel. Weiter oben am Hang hatte dieser Morgen begonnen, mit einem Widder, der womöglich stärker war als der meine. Aber das Erlebnis wäre schwächer, der Eindruck, die Erinnerung seichter gewesen.

Am Wirtshaus unterhalb der Burg warteten wir auf Marco und Dalibor, und ich betete inwendig, dass mein Freund ebenfalls zu Schuss gekommen wäre. Für ihn war der Widder ein langgehegter Lebenstraum. Doch als das Auto hereinfuhr, war Marcos Hut leer. Anblick hatte er gehabt, war an mehreren Rudeln gewesen, doch kein schussbarer Widder war dabeigestanden. So sehr ich mich über meinen Widder freute, mehr hätte ich mich gefreut, hätte er ihn heimgebracht. Aber Marco ist ein Jäger, der den leichten Erfolg nicht mag. Er will sich seine Jagd verdienen und erarbeiten, und je länger, je härter – je lieber. So war seine Freude über meinen Muffel ehrlich und so, dass ich mich nun auch endlich ohne jeden Rückhalt an diesem Morgen freuen konnte. Ich ging ins Wirtshaus, Bier zu holen. Der Trunk durfte und musste sein. So standen wir denn: vier Jager und zwei Dackel um einen guten, alten Widder, während sich der Parkplatz mit Touristen füllte und die ersten Gäste mit ihrem Frühstück vors Wirtshaus traten. Kinder spielten auf der Wiese, eine Gruppe junger Leute saß an einem der Tische, und zur Gitarre sangen sie böhmische Weisen. Hätte sich diese Szene in Deutschland ereignet, hätte ich mich womöglich unwohl gefühlt: Bier in der Hand, Hund an der Leine, Waffe über der Schulter. Menschen hätten Fragen stellen können, und ob ich die hätte beantworten mögen, ob ich da um Verständnis hätte arbeiten wollen? Doc hier sah kaum wer auf uns her. Hier waren wir eine Normalität, ein Gewohntes, oft Gesehenes. Die Jagd hier gehört zum Land und zu den Leuten. Ein Ehepaar hielt das Auto neben uns an, zwei Kinder steigen aus und schauten scheulos auf den erlegten Widder. Die Frau lachte, der Mann rief uns ein „lovu zdar“ zu.

Photo: Bertram Graf v. Quadt

Den Tag verbrachten Marco und ich wiederum drüben in Österreich. Dort wusste ich eine Freundin und Verwandte aus uralten Zeiten. Sie ist eine Nichte der zweiten Frau meines Großvaters, ihre Eltern waren früh verstorben. So hatte mein Großvater sie und ihre beiden Geschwister an Kindes statt genommen. Isa war in meinen Kindertagen oft und viel in Isny gewesen. Ich hatte sie als selbstbewusstes, aber verschlossenes Mädchen erinnert. Irgendwann hatten wir uns aus den Augen verloren, um uns dann über einen Fluch und Segen der Jetztzeit, über Facebook, wiederzufinden. Sie ist eine gute, zähe Jägerin geworden und hat ein kleines Sach im Waldviertel. Ihre Kinder sind groß und guten Wegs, so lebt sie nun ihren Hunden und der Jagd. Und ich gäb was drum, würde einer der Hunde, die ich habe und noch haben werde, je so gern und gut spuren, wie es ihr Drahthaarmädel tut! Dort verbrachten wir einen schönen, langen Nachmittag voll alter Geschichten, wir hatten uns sicher vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre nicht gesehen. Aßen Apfelstrudel, rauchten, lachten, während Traudl ihre Küche inspizierte. Ich bin heute noch fasziniert, wie nach so langer Zeit augenblicklich die Vertrautheit wieder da war, die wir als Kinder hatten. Isa saß da, als wäre sie keinen Tag gealtert, immer noch das gleiche, hagere, selbstbewusste Ding, um ihre Schultern eine Joppe, die ich noch von meiner und ihrer Tante wusste. Unter den vielen jagenden Verwandten, die ich habe, ist sie eine Besonderheit: bei ihr geht es nicht um große Strecken und große Häupter. Da zählt das Rehkitz ebenso wie der Hirsch, und der Fuchs wie der Keiler. Isa jagt um der Jagd willen.

Als wir wieder in Landštejn waren rief Aleš mich an. „Du hast ja nun Deinen Widder, und ich gratuliere Dir dazu. Er ist wirklich gut, und so, wie er aussieht, ist er ein Verwandter meines guten Widders.“ Tatsächlich hatte er mir, als ich die Jagd mit ihm abgesprochen hatte, ein Foto eines alten, langschneckigen, aber nicht enggedrehten Widders geschickt, und meine Antwort war: „Meine Kragenweite!“ – „Nun, wie soll es denn nun weitergehen? Marco hatte ja noch keinen Erfolg. Aber Du? Gehst Du nun weiter hinaus, oder willst Du im Wirtshaus bleiben?“  Ich hatte daran bislang keinen Gedanken verschwendet, aber die Frage stand tatsächlich im Raum.  Ich überlegte kurz, dann sagte ich: „Nein, auf keinen Fall! Ich jage gern weiter. Einen besseren Widder als den von heute möchte ich nicht schießen, das wäre zu viel. Aber wenn etwas Passendes kommt, das schwächer ist, dann sehr gern!“ – „Danke, ich weiß Bescheid. Alles andere hätte mich auch an Dir zweifeln lassen!“

Die Abendpirsch verlief für Marco leider ebenso erfolglos wie für mich. Wir trösteten uns am guten böhmischen Bier. Später, als ich längst im Bett lag und Traudl sich auf meinen Füßen grunzend zurechtlegte, machte ich mir Sorgen. Morgen war unser letzter voller Jagdtag, Sonntag würden wir abreisen. Marco musste endlich zu Schuss kommen, sonst hätte diese Reise einen bitteren Beigeschmack. Er ist ein sicherer, guter und schneller Schütze. Daran mangelte es nicht. Er liebt harte, anstrengende Jagd. Daran lag es sicherlich auch nicht. Dass man in Vitíněves gute Muffelwidder nicht vom nächsten Strauch pflückt, wusste ich ja nun. Es musste sich also halt einfach „nur“ ergeben. Ich empfahl meinen Freund den Heiligen Hubertus und Eustachius. Dann schlief ich ein.

Der nächste Tag erwartete uns mit der üblichen Nebelsuppe. Ich nahm das nicht als gutes Omen. Mein Morgenansitz an einer großen Wiese blieb leer. Auf der Heimfahrt hielt Mira das Auto an einem Waldteich scharf an und deutete mit dem Kopf in den Wald. Erst nach einer gewissen Zeit sah ich, dass sich hinter Büschen und Bäumen einige Läufe bewegten. „Muflonči!“, zischte er durch die Zähne und gab mir dann zu verstehen, dass wir das Rudel angehen sollten. Mira umschlug das Waldstück neben dem Teich, um das Wild von hinten anzupirschen. Einmal mehr war ich von seinem Können beeindruckt. Ich bilde mir ein, recht ordentlich zu pirschen. Aber so lautlos wie er sich durch Dickung und Totholz bewegte kam ich nur in höchster Konzentration voran. Dazu muss aber gesagt werden, dass der Wald im Revier so gut aufgeräumt war, wie ich es vom Elternrevier in meiner Jugend kannte. Dort hatte ich sommers meist im Forst mitgearbeitet, und jede Rotte achtete peinlich darauf, dass Wipfelzöpfe und Astungsware sauber zu Haufen aufgeschichtet wurden. Der Waldboden hatte frei von knackendem Gewirr zu sein.  Mira und ich folgten dem Rudel gut eine halbe Stunde und kamen endlich schussnah heran. Ein passender Widder war nicht dabei, doch Schafe und Lämmer gab es genug. Doch die Lämmer waren durch den hohen Bodenbewuchs verdeckt, und welches von den Schafen nichtführend war, konnte ich beim besten Willen nicht sehen. Der Lauf blieb blank.

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Photo: Aleš Maxa

Dennoch war es ein guter Morgen, war es gute Jagd, zeigte mir dieser Moment einmal mehr, was für ein übler Zirkelschluss das viel gemaulhabte Theorem von Ortega y Gasset doch ist, wonach der Jäger nicht jagt, um zu töten, sondern vielmehr tötet, um gejagt zu haben.  Denn dieser Aussage folgend hätte ich an diesem Morgen nicht gejagt, da ich ja nicht getötet hatte. Aber: ich hatte gejagt, gut gejagt sogar, und ich war losgezogen, um zu jagen, ungeachtet des Ergebnisses. Ja, ich jage und nehme dabei den Tod des Wilds in Kauf. So gesehen jage ich nicht mit dem ausschließlichen Ziel des Todes der Kreatur, so gesehen jage ich nicht, um zu töten. Aber habe ich nicht getötet, dann habe ich dennoch gejagt, denn Jagd ist so viel mehr als die Erlegung. Doch Ortega postuliert, dass ich nicht gejagt hätte, da ich ja nicht getötet habe. Er irrt und mit ihm jeder Jäger, der sich das Theorem umschnallt, um sich damit vor einer jagdfeindlichen Öffentlichkeit zu verteidigen. Das kommt dabei heraus, wenn man sich eines sicherlich bedeutenden, aber dennoch halt Soziologen bedient, der als Freundschaftsdienst einem spanischen Jäger das Vorwort zu dessen Memoiren geschrieben hat und das ganze (für ein Vorwort doch recht ausufernde) Traktat und Gedankengebäude dann als „Meditationen über die Jagd“ verkauft, ohne selbst je gejagt zu haben. Ja, man soll sich der Philosophen befleißigen und sie lesen, das sicher. Aber das enthebt niemals vom eigenen Denken, denn das zu unterlassen würde diesen großen Denkern nicht gerecht.

Hirnerei hin, Philosophie her: ich kam leer heim. Marco leider auch. Wieder hatte er Anblick gehabt, wieder hatte irgend etwas nicht gepasst irgendwo zwischen Lipp‘ und Kelchesrand, was ein verdammt großer Raum ist. Musste halt der Abend etwas bringen. Davor gab es aber noch ein weiteres Mittagessen in Österreich, wieder mit einer Internetbekanntschaft. Der Mann führt eines der größeren deutschsprachigen Jagdforen im Internet und ist darin nicht unumstritten. Denn er führt es mit Überzeugung und schreckt nicht davor zurück, diese Überzeugung auch mit manchmal recht deutlichen Mitteln durchzusetzen. Doch sein Jagen und seine Art, dieses Jagen darzustellen hatten mich schon länger so interessiert, dass ich ihn persönlich kennenlernen wollte. Jetzt war die Gelegenheit dazu.

Dieter ist ein Mann, der zu leben weiß. Wer Josef Weinheber kennt und gelesen hat, wer eines seiner genialsten Gedichte „Der Phäake“ kennt und versteht, wird ahnen, was ich meine. Ich hatte Dieter angeschrieben und um gute Wirtshäuser im Waldviertel gefragt, wissend, dass ich a) sehr gute Adressen bekommen würde und ich b) sicher sein konnte, dass ich, wählte ich die zweite der drei Empfehlungen, ihn dort treffen würde. Es war ein perfektes Mittagessen. Ein Krautsupperl mit Innviertler Grammelknödel, ein Schweinsbraten vom Schopf (nicht vom strohtrockenen Karree) und eine Mehlspeis, die ein Traum in Kernöl war. Dazu ein wunderbarer „g‘mischter Satz“, den ich seit je her gern trinke, seitdem aber begreife; und drumherum gute, spannende Gespräche.  Danach noch eine kurze Revierfahrt und in mir aufkeimend der Gedanke, dort im Kretzl einmal ein Blattjagdseminar zu machen. Insbesondere aber einmal mehr die Bestätigung, dass meine Frau und ich die richtige Entscheidung getroffen haben: nach meiner Pensionierung werden wir uns irgendwo zwischen Wein- und Waldviertel niederlassen.

Über meine Abendpirsch gibt es wenig zu berichten. Marco dagegen musste an dem Abend knietief durch die Jagdhölle gewatet sein. Dalibor hatte ihn wieder an ein Rudel herangebracht, und diesmal stand ein passender Widder darin. Wobei „passend“ es nicht ganz trifft: der Widder war alt und ausnahmsstark, Dalibor beschrieb ihn als einen der besten des Revieres. Diesem Rudel, diesem Widder waren die beiden den ganzen Abend gefolgt, waren mal um mal nah genug daran. Aber kein einziges Mal bot sich eine freie, sichere und passende Situation, dass Marco hätte schießen können. Und nach jeder doch-nicht-ganz-Gelegenheit waren sie drangeblieben, hatten verbissen weiter um den kurzen Augenblick gekämpft, in dem alles ins Richtige zusammenfällt. Dann hatte die Nacht die beiden eingeholt, und im Dunkeln kehrten sie zurück. Wer je ernsthaft gepirscht hat um ein ersehntes Wild, wird wissen, was so ein Abend heißt. Das Schicksal zeigt dem Jäger, wie es sein könnte, und will er dran langen, zieht sich der Vorhang zu just in der Sekunde, wo die Hand sich schließen will um das lang Ersehnte.  Die alten Griechen haben aus so etwas die Sagen von Tantalus und Sisyphos gemacht. Marco stieg gebeugten Kopfes aus dem Auto, so hatte ich ihn noch nie gesehen. Dalibor sah müde aus.  Als wir in der Jagdstube des Wirtshauses beim Abendessen saßen, musste ich Marco die harte Frage stellen: „Wir haben morgen ein paar hundert Kilometer Fahrt vor uns.  Möchtest Du in der Früh nochmal raus?“ Er sah mich völlig entgeistert, fast empört an: „Ja, was denn sonst?“ Dalibor hob seinen Bierkrug und grinste hinein.

Nach all den nebligen Morgen, die wir gesehen hatten, grüßte uns am letzten frühen Morgen ein sternenübersähter Himmel: Der Luchs stand im Zenith, darunter der Große Bär und hinter ihm die Jagdhunde. Orion mit seinem schimmernden Gürtel, den Hasen zu Füßen leuchtete im Westen und neben ihm lagen Perseus und Kassiopeia.  Das noch Mars rot auf Orions Schwertspitze leuchtete – der ganze Himmel dieses frühen Morgens konnte nur ein einziges gutes Omen sein.

Mira führte mich an eine Ecke des Reviers, die ich leicht wiedererkannte – wir waren mehrfach daran vorbeigekommen. Da steht eine gemütliche Kanzel am Rand eines Kahlschlags vor einer Dickung, und dort beorderte mich Mira hinauf. Als wir uns gemütlich eingerichtet hatten, grinste er mich an und bedeutete mir, dass er diese Kanzel gebaut hatte. Das mochte gut werden. Noch war stockfinstere Nacht. Mein kleines Infrarotgerät, das ich auf den ersten Pürschen noch mit dabeihatte, lag längst zuunterst in meiner gepackten Reisetasche im Hotel. Ich mochte das Ding so schon nicht, und hier hatte ich es schlicht nicht gebraucht. Denn auch ohne diese elektronische Krücke konnte ich die Bewegung im Schlag sehen: da war Wild unterwegs, stetig in eine bestimmte Richtung ziehend, mehrere Häupter. Das Glas zeigte etwas mehr: Muffelwild äste den Schlagrand entlang. Zwei Widder waren drunter, aber die waren sichtlich jung und mähnenlos. Der Rest waren Schafe und Lämmer. Das Rudel zog stetig, aber langsam schräg von uns weg. Mira deutete stumm auf meinen Stutzen. Dann wies er mich auf eine etwas bereitere Schneise ein, auf die das Rudel zu hielt.  Die Widder passten nicht, so käme nur ein Lamm in Betracht, denn in dem Haufen ein geltes Schaf zu finden und dann auch noch anzusprechen: mochte sein, dass Mira das konnte. Ich niemals, und bei mir lag die letzte, endgültige Verantwortung.

Beide Widder waren über die Schneise gewechselt, die Schafe kamen langsam hinterher. Jedes Mal hatte Mira ein deutliches „Ne!“ gezischt. Dann bliebt ein kleiner Schatten rechts der Schneise an einem Baum stehen und äste dort herum. Mira packte mich am Arm und nickte heftig mit dem Kopf. Als das Lamm auf die Schneise trat und dort verhoffte, flüsterte ein leises „Ano!“ Dann lag das Wild im Feuer. Es war ein schwaches Lamm, das gut zu nehmen war. Ich war froh. Traudls Begeisterung dagegen war grenzenlos, sie packte das Lamm an der Drossel und schüttelte es kräftig durch.

Zum Aufbrechen fuhren wir an den bekannten Platz, und dort genoss ich den aufgehenden Morgen in vollen Zügen. Jenseits der Wiese stieg die Sonne über den Hochwald herauf, die taunassen Spinnweben in den Sträuchern glitzerten silberschwer. Drüben hob sich der Bergfried von Burg Landštejn gegen den Morgenhimmel ab, und ich war mitten in dieser traumschönen Szenerie und dort still, zufrieden und glücklich.

Photo: Bertram Graf v. Quadt

Ich hatte früh geschossen, so waren wir auch früh wieder am Parkplatz und warteten dort eine ganze Weile auf Marco und Dalibor. Als dann endlich der Pickup um die Ecke bog, als ich aus dem Beifahrerfenster einen grünen Bruch leuchten sah. Marco stieg, Trudolf im Arm, strahlend aus dem Auto und deutete nur auf die Ladefläche. Dort lag ein reifer, guter Widder. „Wie?“, brachte ich heraus. „Ja, der wollte halt nicht stehenbleiben. Dann hab‘ ich halt so geschossen“, grinste der Freund mich an. Mit ein paar Nachfragen brachte ich die Geschichte   zusammen: Marco und Dalibor waren wieder einem Rudel hinterhergelaufen, wieder war ein alter Widder dabei, der wieder keine Gelegenheit um Schuss bot. Als das Rudel dann irgendwann die Verfolger begriffen hatte und abgegangen war, hatte Marco auf gute achtzig Meter den Widder im flotten Troll flüchtig erlegt. Ich gäbe Geld, wäre ich dabei gewesen und hätte Dalibors Gesicht gesehen.

Ich hatte mir fest vorgenommen: würde Marco endlich seinen Widder haben, würde ich ein Freudentänzchen machen. So hoppelte ich eine unbeholfene Mischung aus Landler und Menuett daher Und muss dabei furchtbar peinlich ausgesehen haben. Denn Traudl ließ sich nur widerwillig abgewandten Hauptes hinter mir her schleifen. Erst als im am Auto angelangt war, als Marco breit grinsend ausstieg und mir einen großen Bruch am Hut vors Gesicht hielt, da leitete sich ein duftgetragener Gedanke durch die unzähligen Windungen der Dackelnase, hatte dann noch die rassetypische Dickschädelbarriere zu überwinden, bis er endlich zündete. Dann gab es kein Halten mehr für Traudl: sie klemmte sich mit den Vorderpfoten am oberen Rand des Reifens unter der Ladefläche fest, strampelte sich mit den Hinterpfoten hinauf, fand dann aber mit den vorderen Extremitäten keinen Halt mehr, plumpste herunter und motzte lautstark. Ich hob sie hoch und gemeinsam sahen wir einen guten, starken Widder daliegen. Marco stand neben mir, grinste erst, dann lächelte er. Es war ein schöner Moment der gemeinsamen Freude. Traudl, die ich wieder abgesetzt hatte, hopste wie ein Gummiball neben mir auf und ab. Seitdem weiß ich, dass ich mir den Lebenstraum eines roten Pickups nie werde leisten können. Denn mein Dackel ist der festen Überzeugung, dass auf der Ladefläche eines solchen Autos grundsätzlich ein Muffelwidder liegt. Und nach diesen Tagen in Böhmen ist klar: Muffel sind ihr Lieblingswild.

Ja, es war der letzte Tag, ja, es war die letztmögliche Pirsch und: ja, der Weg nach Hause war noch weit. Aber bei Aleš gibt es keine Jagd ohne Streckenlegung, und ich hätte mir auch keine Jagd gewünscht, bei der man zum Abschluss formlos seine Schuldigkeit begleicht und dann heimreist. Und weil Aleš von Haus aus ein Ästhet ist, hatte er längst einen perfekten Ort für die Streckenlegung gefunden: unweit der Stelle, an der ich den zu jungen Widder neben den schnarchenden Touristen an der Hecke gesehen hatte, lag das Wild, umleuchtet von den Herbstfarben des böhmischen Waldes, bekrönt von der Feste Landštejn. Vojtěch, Aleš Sohn, blies und sang die böhmischen Jagdsignale, und Marco empfing den Schlag zum Muffeljäger. Ja, ich weiß: das klingt alles unsagbar kitschig, und für manchen wäre es das auch gewesen. Aber in den inzwischen doch einigen Jahren, die ich in Böhmen habe jagen dürfen, habe ich eines gelernt: das Brauchtum wird hier hochgehalten, und es entspringt nicht irgendeiner hohlen Traditionspflege, sondern einem tiefen Respekt vor Geschöpf und Schöpfung und einer ebenso, wenn nicht noch tieferen Dankbarkeit vor dem Schöpfer, der uns all das geschenkt hat.

Dann nahmen wir lang Abschied voneinander. Aleš und Vojtěch würden wir in der Blattzeit in Hradiště wiedersehen. Dalibor und Mira wären dann nicht dabei. Das fand ich schade. Beide kannte ich nur wenige Tage, aber es ist nun einmal so, dass Jäger, die gemeinsam jagen, ein Band knüpfen. Ich rede hier nicht von irgendwelchen Begegnungen auf Gesellschaftsjagden. Ich rede von wirklichem gemeinsamem Jagen, gemeinsamer Anstrengung, gemeinsamer Konzentration, geteilter Enttäuschung, die dadurch leichter zu tragen wird, und geteilter Freude über den Erfolg, die sich dadurch mehrt. Und dieser Erfolg muss kein schweißbenetzer Bruch sein, der auf Hut oder Messerklinge gereicht wird. Eine anstrengende, gute Pirsch, bei der das Wild die klügere Partei bleibt, ist ebenso viel wert, wenn nicht mehr.

Photo: Aleš Maxa

So hatten Mira und ich, so hatten Marco und Dalibor in diesen Tagen gejagt. Unsere Jagdführer hatten alles drangegeben, damit wir Erfolg hätten. Wir hatten unseren Teil dazu getan. So war es durch und aus einem Gemeinsam ein Miteinander geworden, und so hielten wir Abschied. Was Dalibor Marco mitgegeben hat auf den Heimweg, das weiß ich nicht, das geht mich auch nichts an. Mira gab mir einen Satz mit, an dem ich heute noch herumdenke: „Ty máš z prdele kliku“.  Eines der wenigen Wörter in meinem mageren tschechischen Wortschatz ist „prdele“ – „Hintern“. Aleš hatte meinen etwas verdutzten Blick begriffen und erklärte mir, dass das eine Art Glückwunsch sei: „Du hast eine Klinke im Popo!“ Warum meine böhmischen Freunde Glück mit etwas gleichsetzen, was ich ganz persönlich als wenig glückhaft empfinden würde, ist mir ein Rätsel, ebenso wie es die tschechische Sprache noch ist, deren Melodiereichtum und Schönheit langsam zu ahnen beginne. Das Rätsel der Sprache bin ich gewillt durch Lernen zu begreifen. Ich hoffe, dass mir dieser Wissenserwerb erspart das andere Rätsel durch Erfahrung zu lösen.

Eines weiß ich aber sicher: übers Jahr werden wir zurückkommen nach Landštejn und dort jagen. Sei es auf Widder, Schaf oder Lamm, auf Keiler, Überläufer oder Frischling, Hirsch, Tier oder Kalb.  Denn das Jagen dort ist anstrengend, anspruchsvoll und deswegen schön. In Böhmens reichen Wäldern darf ich nun schon seit vielen Jahren bei guten Freunden jagen, und über die Jahre sind dort weitere Freundschaften entstanden. Aleš und seine Familie: das sind Freunde geworden. Und Marco ist mir nach längerer Bekanntschaft spätestens dort in Vitíněves auch zum engen Freund geworden. Das alles nehme ich aus dem Land im Schatten der Burg, aus diesem böhmischen Kanada mit: wiedergefundene Verwandtschaft, neu gefundene Freunde, reiche Erfahrungen und goldglänzende Erlebnisse. Dahinter verschwindet ein guter Muffelwidder beinah – aber eben nur fast. Denn all diese Erlebnisse und Erfahrungen hängen an seinen weiten Schnecken.

PS: Wer das böhmische Kanada genauer verorten möchte, dem sei dieses Foto aus der Gegend anempfohlen.

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